Granada – die Stadt der Muße

„Granada ist eine Stadt der Muße, eine Stadt für die Beschaulichkeit und die Phantasie, eine Stadt, darin der Verliebte besser als irgendwo anders den Namen seiner Liebe auf den Boden schreibt. Die Stunden sind dort länger und gehaltvoller als in jeder anderen Stadt Spaniens.“ Federico García Lorca

Besser als der gefeierte andalusische Autor und Dichter Lorca könnte man es kaum beschreiben, wenn man sich den Sonnenuntergang auf den Hügeln der Stadt anschaut oder wenn man durch die Straßen läuft und einem auf einmal blau-weiße Berge zwischen zwei Häuserfronten entgegenstrahlen. Granada erscheint mal als gemütliches kleines Städtchen, mal als Großstadt mit Verkehrslärm, lauten, großen Demonstrationen und langen Distanzen, die zu Fuß überbrückt werden müssen. Und trotz der Touristenscharen und ihren Vergnügungslädchen überall in der Stadt, bleiben doch auch die urigsten und verstecktesten Ecken der Stadt erhalten und werden sind noch nicht vollends eingenommen. Vor unserer Haustüre strömen die Touristenmassen zwar hoch Richtung Alhambra, verschwindet man aber kurz in die kleinen Gässchen hinter dem Haus, in denen sich die Touristen hoffnunglos verlaufen, findet man ruhige Plazas mit Orangenbäumen und Kopfsteinpflaster. Tritt man dann in die Uni-Welt ein, wird das mystische Granada auf einmal erstaunlich real und plastisch und präsentiert sich in einem grauen Betonklotz aus den 70er Jahren auf eine ganz andere Art und Weise. Viel schulischer und arbeitsintensiver gestaltet sich dabei auch das Uni-Leben, aber eben auch viel persönlicher, pädagogischer und ditaktisch hochwertiger. Politische Diskussionen über die Erhöhung des Mindestlohns im Agrarsektor und ihre Widersacher, die neue Regierung und rechtspopulistische Hochburgen in denen die Bildungspläne „entliberalisiert“ werden sollen, tauchen nicht nur dort auf, sondern begleitet auch die Wandergruppe der Uni, die sich jede Woche aufmacht in die Berge der Sierra Nevada.

Ich fühle mich etwas fehl am Platz an der Bushaltestelle um 8:30 Uhr – um mich herum Rentner/-innen und Erwachsene, fünf Studierende und ich. Offensichtlich scheint die Uni-Wandergruppe eher aus dem Lehrpersonal oder dem ehemaligen Lehrpersonal zu bestehen. Man erklärt mir, die spanischen Studierenden feiern so gerne. Ich fühle mich sehr deutsch. Auf der Wanderung lerne ich allerdings Farmaziedozentinnen, emeritierte Geschichteprofessoren und ja auch 3 spanische Studierende und Doktoranden kennen, alle hoch motiviert und zügig unterwegs, um die 16 Kilometer durch wunderschöne Pinienwälder zu meistern. Der Ausblick hat sich gelohnt! Weiße Berge unter blühenden Wäldern bei 20 Grad, eine halbe Stunde außerhalb der Stadt. Auch das ist Granda.

Mittwoch 18:00 Uhr. Ich mache mich auf zu meiner ersten Gitarrenstunde. Julián, mein Gitarrenlehrrer, ein Freund meiner türkischen Mitbewohnerin, bietet mir einen aufgebrühten Mate-Tee an, während er mir verschiedene Gitarrenakkorde zeigt. Er hat eine deutsch-argentinische Freundin, natürlich!

Abseits von Granada lohnt es sich auch auf einen kleinen Ausflug nach Córdoba, der ehemaligen Hauptstadt des al-andalus Reichs und ihrer unglaublichen Moschee-Kathedrale, die mit ihrer Ausdehnung fast die ganze Stadt vereinnahmt. Mit einer der viel organisierten Veranstaltungen der Erasmus-Gruppe erreichten wir die Stadt günstig und schnell und konnten kurz in das typische Touri-Leben eintauchen, das hier eine Menge Spaß macht: Tapas vor den alten Gemäuern, in denen Christoph Kolumbus seine Indien-Reise vorbereitete, Sommerurlaubsfeeling mit grünen Palmen und die Vermischung der „orientalischen“ und „okkzidentalen“ Welt. Orientalische Bögen und Ziermuster konkurrieren mit pompösen, golden verzierten Jungfrau-Maria-Figuren, so als würde der Konkurrenzkampf der beiden Kulturräume sich noch immer, nach all diesen Jahrhunderten fortdauern. Eine Woche später lese ich in der Zeitung über eine geplante Grenzerhöhung der Zäune in Ceuta und Melilla, den spanischen Enklavestädten auf dem afrikanischen Kontinent, rassistische Gewalt in Andalusien und auch in Granada selbst wird sichtbar: Ja, es gab eine Zeit der convivencia im al-andalus-Reich, was höchstens eine gegenseitige Akzeptanz der drei montheistischen Weltreligionen bedeutete, aber so sehr sich hier arabische Kulturgüter und haufenweise syrische Falafelläden in das Stadtbild mischen – Andalusien und Granada pochen auch darauf europäisch zu sein und spanisch und katholisch. Auch die Zeit der convivencia schützt hier niemanden vor Rassismus.

Mein Fazit aus vier Wochen Granada ist begeistert, verträumt und vielschichtiger als ich es mir hätte vorstellen können und ich bin gespannt darauf mehr von der Stadt und den Menschen hier kennenzulernen, aber genauso mich in kleine Bergdörfchen und Pinienwälder zu flüchten oder an den Strand, ans Meer!

Eine neue Welt

Gitarrenakkorde erklingen auf der Plaza unter meinem Fenster und vermischen sich mit dem sanften Klappern des Geschirrs der Mittagessenden und ihren Gesprächen. Die Sonne strahlt warm in mein Zimmer. Ich lese Zeitung, wo über die neue spanische Regierung berichtet wird, trinke Kaffee und genieße die Aussicht auf die Alhambra, die sich direkt auf dem Hügel gegenüber mayestetisch erhebt. Ich kann es selbst noch gar nicht fassen!

Nachdem ich diesen Blog nun seit geraumer Zeit nicht mehr angerührt habe, gibt es wieder einen Anlass zu schreiben: nämlich mein Auslandssemester in Granada – Thematisch passend zu diesem Blog eben auch deshalb, weil es sich einmal wieder um ein spanischsprachiges Land handelt und ich nicht umhin konnte, ohne diese Sprache auszukommen!

Erinnerungen an Argentinien drangen ganz wie alleine durch das Spanisch und das freie und offene Lebensgefühl an die Oberfläche und dennoch ist Granada natürlich ganz anders durch seine arabische Prägung, die wunderbare Tapas-Kultur, in deren Genuss ich auch schon kommen durfte und anstatt von Tango wird hier Flamenco auf den Straßen getanzt!

Nachdem ich nach einigen Tagen nun auch in mein Zimmer in einem mehrstöckigen typsich-städtischen Wohnhaus einziehen konnte, genieße ich das Leben in der Innenstadt, auch wenn sich Touristenscharen durch die engen Gassen am Fuße des mittelalterlich arabisch und jüdisch geprägten Viertels tummeln. Hier lebe ich zusammen mit einer türkischen Englischlehrerin und einer anderen deutschen Erasmus-Studentin in einer kleinen, aber sehr feinen 3er-WG. Erklimmt man hinter unserem Haus den Hügel, an denen sich kleine, weiß gestrichene Häuser schmiegen, taucht man ein in den kulturellen Schmelztiegel Granadas: das Viertel „Albaizyn“. Hier wechseln sich Moscheen, Synagogen und katholische Kirchen von einer Ecke zur nächsten ab. Arabische Teestuben und Restaurants reihen sich neben Tapas-Bars und Halal-Metzgereien. Mandarinen-und Orangenbäume säumen die verschlungenen Gassen und verstecken prächtige Gärten und typische Innenhöfe der Wohnhäuser. Arabische Türen und Muster zieren ihre Eingänge. An einer Ecke fühlt man sich wie in einer arabischen Stadt, kaum biegt man um die Kurve wie in einem spanischen oder griechischen Bergdörfchen. Oben angekommen erstrahlt nicht nur die Alhambra, erhaben über die Stadt, sondern vor allem die gewaltige Sierra Nevada, die ein breites Tal von allen Seiten einschließt, in dem sich der Rest der Stadt weitläufig erstreckt. Erst beim zweiten Hinsehen erkennt man die schneebedeckten Riesen der Sierra Nevada, die bis zu über 3000 Meter hoch sind. Wie Wolken schweben sie über dem kargen Vorgebirge. Sonnenuntergänge muss man hier genießen – es bleibt einem kaum etwas anderes übrig! Mediterrane Landschaft umgibt die Stadt und hohe Zypressen schmücken den Hügel der Alhambra, das Wahrzeichen der Stadt, nach dem hier auch die städtische Biermarke ernannt wurde.

Neben dieser kulturellen Pracht Granadas, die vor allem zum Ende der Franco-Diktatur als Tor zur „orientalischen“ und arabischen Welt wiederentdeckt wurde, und den Tourismus zu einer der Haupteinnahmequellen der Stadt machte, lassen die Stromausfälle und das weiter abgelegene, verruchte flamenco-Viertel „Sacromonte“ andere Realitäten erscheinen: eine hohe Jungendarbeitslosigkeit, rechtspopulistische Hetze gegen riesige Ströme von Geflüchteten, für deren Unterbringung Mittel und Infrastruktur fehlen, sowie die marode Wirtschaft Andalusiens sind genauso Teil von Granada.

Auch in einem Seminar an der Universität betont der Professor sehr leidenschaftlich, dass Andalusien und Granada mehr seien, als nur flamenco, Stierkämpfe, gutes Essen und viel Wein – auch wenn ich mir so in etwa mein Auslandssemester ausgemalt hatte, muss ich gestehen – das seien politisch instrumentalisierte und idealisierte Bilder aus der Zeit der Franco-Diktatur! Die nordeuropäischen Länder würden sich auf ihren wirtschaftlichen „Fortschritt“ etwas einbilden und Spanien mit ihrer „ursprünglichen“ Gypsy-Kultur romantisieren und degradieren. Er springt erregt auf und doziert über die ausgeklügelten Kanal-und Wasserspeichersysteme, die vor Tausenden von Jahren in Andalusien errichtet wurden und die schwierigen klimatischen Bedingungen mit denen Nordeuropäer*innen ja nicht zu kämpfen hätten….

Auch über „Chegel“, „Platón“ und natürlich dem spanischen Philosoph Ortega habe ich schon viel an der Uni gehört, verstanden zwar noch nicht alles, die ausgiebige Gestik und die brennende Leidenschaft der Philosophie-Dozent*innen haben mir die Kurse allerdings schmackhaft gemacht, genauso wie das doch etwas andere Studiensystem in Spanien. So bestehen die Seminare aus wenigen Studierenden, die Struktur erinnert an Schulklassen, alle stellen sich mit Namen vor und anstatt von trockenen Vorlesungen gibt es lebhafte Vorträge und kreative Arbeitsaufträge wie das Nachspielen von Antigone auf Spanisch!

Alles in allem fühle ich mich bereits in der ersten Woche hier sehr wohl, genieße das beinahe schon sommerlich-sonnige Wetter nach dem grauen Winter in Deutschland sehr und freue mich unglaublich auf die Zeit hier, Flamenco-Gitarrenkurse, Ausflüge ans Meer und in die Berge, sowie in viele andere andalusische Städte usw., auch wenn das vorerst die nordeuropäische Kulturromanze Andalusiens bestätigt…

Vom einen Leben ins andere

Rückkehr

Eine Hitzewand baut sich vor mir auf als ich aus dem kleinen Flieger am Friedrichshafener Flughafen stolpere. Wiederwillig kämpfe ich mich über das Rollfeld und lande im sicheren klimatisierten Flughafengebäude. Als ich auf meinen Rucksack am Gepäckband warte, steigt das Adrenalin. Nur noch eine einzige Tür trennt mich und meine Eltern, die ich seit einem knappen Jahr (mit Ausnahme meiner Mutter) nicht mehr gesehen habe.
Alle Müdigkeit und Erschöpfung sind mit einem Mal wie weggeblasen. Die Tür geht auf, braungebrannte Arme umschlingen meinen bleichen, erschöpften, aber durch und durch glücklichen Körper.
Über gefühlt winzige verschlugene Sträßchen geht es zurück nach Weingarten! Ich kann es kaum glauben. Jeder Baum, jede Wegkreuzung, jedes Haus scheint mir vertraut und bekannt wie nie und dennoch fremd, aus einem anderen Leben, das vor mehreren Jahren oder vorgestern hätte stattfinden können.
Die Wohnungstür geht auf, wohlbekannte Gerüche strömen auf mich ein und da ist es: mein Zimmer, mein Zuhause.

3 Tage davor – Abschiedsszenarien:

Unser Abschiedskonzert mit dem Orchester der Armonía

Unser Abschiedskonzert mit dem studentischen Orchester Mar del Platas

Letzte Ausflüge in der Armonía und um Mar del Plata

Letzter Abschied in Buenos Aires

Die letzte Reise nach Buenos Aires, die sich wie eine von vielen anfühlt, fliegt vorbei. Der Abschied von den Servidoras und allen Projektteilnehmern, der so von Wiedersehensstimmung geprägt ist, dass er sich nicht wie ein Abschied anfühlt. Das Taxi zum Flughafen fährt vor. Je näher wir dem kommen, desto höher steigt der Puls.
Der Glaskastenschlauch zum riesigen schwebenden Schiff, meinem Flugzeug nach Frankfurt, führt mich zum Eingang und kurz bevor ich die Schwelle übertreten will und der netten Stewardess mein Ticket zeigen kann, überfällt mich kurz ein harter innerer Widerstand. Umdrehen und zurück ist mein Impuls, den ich schweren Herzens unterdrücke und ins Flugzeug steige.

„Willkommen in Frankfurt am Main!“, plärrt die Stimme der Pilotin durch die Lautsprecher über mir. Erleichtert bewege ich meine lahmen Beine und blicke mich um: Graue Stein- und Betongänge führen in alle Richtungen, Menschentrubel, flirrende, unübersichtliche Depearture – Tafeln blenden mich. Etwas verloren finde ich dann doch den richtigen Weg und laufe- laufe an gegen die Müdigkeit, die Verwirrung auf einmal in Deutschland zu sein, die ganzen Eindrücke, die in meinen Kopf einströmen und doch nicht ankommen. Ich fühle mich unwohl zwischen den ganzen sommerlich gekleideten, urlaubsgestimmten Deutschen, die an mir vorbeilaufen wie Fremde.
Kein argentinisches Spanisch rauscht mehr um mich herum, kein Mate-Geruch steigt auf, kein lämrender Verkehr mehr. Es ist ein gewaltsamer Schnitt, der zeitlich so schnell geschieht, dass man das gar nicht realisieren kann. Vom neuen Leben ins alte – vom „Abenteuer“, der Anomalität in die Normalität, auch wenn es sich jetzt genau andersherum anfühlt.
Alle zurückzulassen, im Wissen um viele Schicksale der Kinder, die man nun nicht mehr beeinflussen kann, die riesige Strecke als scheinbar unüberwindbare ewige Distanz zwischen uns, ist ein mehr als unbefriedigender Zustand.

Das Wissen um die Möglichkeiten, die nur dort bestehen, die Mentalität, die mir doch in vielem (nicht in allem) zugesagt hat und die Distanz zwischen dem Ihr (Touristen, Ausländer, Deutsche) und dem Wir (Südamerikaner, Argentinier), die sich zunehmend abgeschwächt und dann ganz am Ende völlig aufgelöst hat – wer mich nicht gekannt hat, wusste am Ende nicht mehr um meine deutsche Herkunft und man konnte sich endlich frei und unvoreingenommen, auf einer Augenhöhe unterhalten – sind ständige Begleiter, die immer wieder rufen: „Du musst zurück!“.

Rückblende

Doch vom Umherreisen bleibt ein bitterer Nachgeschmack, ein ständiges Umherirren, Erlebnisse und Spektakuläres hervorbeschwörendes – auf der Suche nach Sensation und dem schmackhaft gemachten Reisen, das man halt so macht nach dem Abitur, weil das ja den Charakter stärke. Einblicke in fremde, indigene Kulturen, die längst nicht mehr unzugänglich, wild und geheimnisvoll sind, sondern genau auf unseren Massentourismus ausgelegt sind, ja ausschließlich davon leben. Wozu also diese unberührte, ursprüngliche Kultur erkunden, wenn sie nur erkauft und erlogen ist? Um instagram oder diesen Blog mit ausreichenden Bildern zu stopfen? Oder sich einzureden, das würde den Charakter tatsächlich stärken?
Irgendetwas treibt uns Abiturientinnen nach draußen und das ist vielleicht auch ganz gut so. Aber nicht, um Kolonialisierung zu betreiben, oder in einem zurückgezogenen Dschungelstamm hängen zu bleiben und als Aussteiger aus dem System zu leben, den Lebenslauf oder die Timeline mit Sensationshopping zu schmücken (wovon auch ich mich nicht ausschließen möchte). Sondern vielleicht tatsächlich, um eine alternative Gesellschaftsordnung intensiv, also auch kontunierlich, kleinschrittig kennenzulernen, was natürlich einen wirklichen Zeitaufwand bedeuten würde. Also nicht den Zeitaufwand, sich ein Jahr Zeit zu nehmen, um blind durch die Welt zu hetzen, sondern den, der Details ihre Berechtigung gibt, der übergeordneten Feststellungen und Beobachtungen Reife zuspricht und uns, den Reisenden, ein gesellschaftsbewusstes- und differenzierendes Leben ermöglicht – dort – wo auch immer das sein mag.
Möglicherweise ja in einem sozialen Projekt, ein weiterer Wunsch, moralisch aufzutrumphen, sein Karma – und Persönlichkeitskonto aufzustocken, um am Ende doch nichts Relevantes zu erreichen, auf unumstößliche, hierarchische, sozial-verlogene Barrieren zu stoßen.
Natürlich man testet seine Grenzen aus, man erlebt, man lebt. Aber ist das Bedürfnis danach nur auf uns projeziert oder existiert es tatsächlich? Sind wir so arm an Erlebnissen, nur an die Schulbank gekettet, dass wir unsere Jugend verpasst haben und verzweifelt versuchen, sie in einem Jahr nachzuholen?
Dieses Jahr hinterlässt so viele Fragen und weder gut noch schlecht überwiegt. Es lässt einen über die Ungerechtigkeit und Verzwicktheit in der Welt verzweifeln, über einen selbst und wirft einem gleichzeitig eine Bandbreite an Möglichkeiten, die man davor nie beachtet hätte, vor die Füße, sodass alle Pläne, alle Sicher- und Gewissheit zerfließt und dafür bin ich sehr dankbar.

P.S.: Vielen Dank fürs Lesen, Kommentieren und Mitfiebern. Der Blog war mir eine große Stütze und eine ungeheuerliche Freude und Plattform des Ausprobierens. Mit Sicherheit wird dieser Blog in absehbarer Zeit wieder aktiviert.
Bis dahin!

Bekannt/-Freundschaften in Mar del Plata

„Seit zwei Jahren habe ich keine reifen Essbanenen mehr gegessen! Schau dir das an, Mari! Die sind tatsächlich reif !“
Mit großem Eifer schnippelt er die großen karibischen Bananen, die eine Hauptzutat des klassisch-venezolanischen Nationalgerichts Pabellón sind. Wahrscheinlich hätte keine von uns drei Praktikantinnen gedacht, dass wir dem vor zwei Jahren aus seiner Heimat entflohenen Hectór, unserem guten venezolanischen Freund, so eine große Freude mit Essbananen machen konnten.
Unser „Geheimnis“, die Bananen einfach neben Äpfel zu legen, damit sie schneller nachreifen, schickt er völlig übermütig an andere Landsleute, die überall auf dem Kontinent verteilt sind.
„Das glaub ich nicht! Die Deutschen haben uns beigebracht wie man Banenen reift !….“, redet er aufgeregt in sein Smartphone und verschwindet in der Küche.
Wir befinden uns in dem winzigen, heruntergekommenen Häuschen, das Mari und Héctor erst vor kurzem bezogen haben. Früher hatten hier Drogenabhängige gelebt. Löcher in Schranktüren und gewaltsam herausgerissene Türklinken zeugen noch davon. Eine Heizung, geschweige denn so etwas wie Dämmung gibt es hier nicht. Die fünf Kleidungsschichten, die wir anhaben reichen gerade so aus, um nicht als Eisklotz am Stuhl festzufrieren. Nach vier sehr gemütlichen Stunden ist dann das gemeinsam gekochte Essen auch schon fertig und freudig stürzen sich alle auf das warme karibische Mahl.
Später sehen wir uns gemeinsam Dokumentationen und Konzerte des großen venezolanischen Projekts „El sistema“ an, aus dem vor allem das weltweit geachtete Orchester „Simon Bolívar“ hervorgeht, dirigiert von Gustavo Dudamel. Und auch Héctor, der seit kurzem bei uns in der Armonía Geige und Viola unterrichtet, hat in diesem Orchester mitgespielt, hat viele andere Orchester des Projekts dirigiert und ist seit seiner Kindheit dick mit Gustavo Dudamel befreundet.
Stolz und etwas wehmütig zeigt er uns viele Bilder mit ihm und scherzt, Gustavo hätte sich nur deshalb die Haare so lang wachsen lassen, weil ihn alle wegen seiner großen Ohren ausgelacht hätten.
Blaue karibische Gewässer, strahlende Kinder und herrliche Musik dringen aus dem Bildschirm hervor und in uns hinein:
Wir drei Deutschen träumen von unserem Projekt, das einmal genauso groß werden könnte, werden sollte (!), und dessen Vorbild genau dieses wahnsinnige Projekt aus Venezuela war.
Héctor träumt dem schmerzvoll nach: Seiner Lebensexistenz, seinem sozialen Umfeld, seinen Freunden… alles wurde ihm entzogen.
Und er ist nicht der einzige, der fliehen musste. Fast alle Lehrer sind weit über den amerikanischen Kontinent verteilt, überall, nur nicht in Venezuela.
Seine Kinder musste er zurücklassen im zerrütteten, infrastrukturlosen Venezuela.
Gerade hat er sich auf die waghalsige und kostenspielige Reise begeben (Flüge nach oder aus Venezuela gibt es fast nicht), für die er zwei Jahre lang alles angespart hatte, was er konnte, um seine Kinder ins wohlsittuierte(re) Argentinien zu holen.

Pabellón – das venezolanische Nationalgericht


Vom oberen Stock des anarchistischen Theaters in Mar del Plata begrüßen uns warme Cellotöne. Anarchistische und sozialistische Kulturzentren sind hier die Förderer der unabhängigen Musikszene, also unsere Aufenthaltsorte, wenn wir mal vom Campo in die Stadt kommen.
Es ist eiskalt, es gibt einmal wieder keine Heizung, die Fenster sind kaputt, eine frische Brise weht von draußen herein. Ein paar eingepackte Schüler von Gustavo, einem Cellisten aus Mar del Plata, haben sich zusammengefunden, um gemeinsam mit uns und ihm ein Stück für ein Celloensemble mit 12 Celli zu spielen.
Nach 2 Stunden des Spielens und einigen Matepausen (die sind eigentlich schon fast obligatorisch in JEDER Probe!) ist es dann aber doch genug des Guten und wir freuten uns an der Heizung unserer Camioneta auf dem Heimweg.
Gustavo, ein zusätzlicher Lehrer unseres begabtesten Cellisten hat uns immer wieder mit Konzert-und Kulturtipps überhäuft und uns in seinen Musikerfreundeskreis aufgenommen, der hauptsächlich aus Tangospielern besteht, die in kleinen Ensembles spielen und von Bar zu Bar, von Club zu Club ziehen.
Sehr sympathische, idealistische Menschen, die ihr Leben hingebungsvoll der Musik gewidmet haben.
Diesen Kulturrausch hätten wir aber vermutlich gar nicht miterleben können, wäre da nicht unsere fantastische Titi gewesen !


Titi ist Ende zwanzig, sehr zierlich und die einzige Cellolehrerin in der Armonía. Uns ist sie die treuste und beste Freundin in Mar del Plata geworden, seit ihrem Ausspruch: „Mi casa es tu casa“ (oder so ähnlich;))

Und aufgrund der strikten Hausregeln in der Armonía war es uns quasi nie möglich abends auszugehen – außer wir schliefen eben in der kleinen, aber feinen Wohnung von Titi auf Bett und Couch.
Zudem war und ist sie die vierte im Bunde und immer bei Cello -Quartetten dabei.
Vor einem Jahr hat sie eine der wertvollsten Beziehungen hergestellt, die die Armonía hat: José Araujo (der Traumcellist).

Ob Tango tanzen, durch Mar del Plata streunern oder die Cello chicos aufraffen, mit Titi kein Problem!

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Natürlich sind hier nicht alle unsere marplatenser Freunde und interessante Bekanntschaften abgebildet – denn die geteilten Mate (das sind bereits tiefe Vertrauens- und Freundschaftsangebote) kann man gar nicht an der Hand abzählen! – aber immerhin ein paar, die uns immer ein kleines Zuhause abseits der Armonía gegeben haben und uns ein ganz anderes Leben in und um Mar del Plata gezeigt haben.

Nietzsche in der deutschen Botschaft – kleiner Kulturschock im Voraus

Buenos Aires. 10:30 Uhr morgens. Ich verlasse die Villa der Servidoras (anders kann man dieses venezianisch anmutende Prachtgebäude gar nicht nennen!), tauche in die vernebelte morgendliche Großstadtstimmung ein und laufe zwei Blocks zur zufällig sehr nahe gelegenen deutschen Botschaft. Normalerweise hätte mich dort allerhöchstens der Zufall hinverschlagen, heute aber sollte ich dort den Eignungstest für das Fach Politikwissenschaft ablegen. Na toll, seit einem Jahr ist meine Handschrift quasi eingerostet und vom wissenschaftlichen Texteschreiben gar nicht zu sprechen!
Es half nichts, ich musste da rein.
Stacheldraht auf einer hohen dicken Betonmauer begrüßten mich, sowie drei Sicherheitsbeamte und ein offensichtlich „hohes Tier“ der Botschaft. Als ich beginne Spanisch zu sprechen, werde ich auf deutsch unterbrochen und angeleitet.
Nach etlichen piepsenden Sicherheitsgeräten und dem Scannen meines Körpers, meiner Jacke, meines Rucksacks und vermutlich noch meines Kulis, gestattet man mir die Türe zu passieren (,natürlich ohne jeglichen persönlichen Gegenstand).
Das eben genannte hohe Tier der Botschaft, ein geschniegelter, mit vor Gel triefenden Haaren und in schwarze Schale geworfener Herr, begleitet mein noch immer etwas verwildertes, nach Rauch und Asado riechendes Ich. Es ist nicht nötig anzumerken, dass ich mich mehr als unwohl und fehl am Platz gefühlt habe. Er fragte, woher ich – „Frau Schrade“ – denn käme. Ich musste den Reflex unterdrücken, um mich zu sehen und mich zu vergewissern, dass da niemand anderes sein könnte, die „Frau Schrade“ hieß und er tatsächlich mich meinte.
Ich werde auf ein Ledersofa abgesetzt, gebeten zu warten und an andere Herrschaftsbereiche übergeben.
Etwas verschüchtert blicke ich mich in dem „Wartezimmer“ um und entdecke vor mir Zeitschriften auf englisch und deutsch. Es geht um Förderung, Steigerung von Leistungsfähigkeit, Effizienz.
In der Ecke steht ein Zeitschriftenständer. In großen Buchstaben steht „Informationen“ darauf in einer Schriftart, die nur in Deutschland verwendet wird. Fremd und bekannt zugleich war mir dieser Raum, der überall in Deutschland genauso hätte existieren können.
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als ein anderer, etwas verloren wirkender Deutscher eintritt (natürlich auch in Begleitung des allen Klischees erfüllenden deutschen Beamtentums).
Genauso wie ich, muss auch Benedikt aus Stuttgart, ebenfalls sein freiwilliges soziales Jahr hier in Buenos Aires absolvierend, den Test für Politikwissenschaft ablegen. Wieder andere Beamte führen uns durch das Gebäude in einen Konferenzsaal geschmückt mit kahlen Laminatholztischen, Konferenzstühlen mit schwarzen, gepunkten Sitz- und Lehnflächen und Plastik-Armstützen. Schon beinahe fasziniert begutachte ich diesen Raum, der mir wie aus einem anderen Leben vorkommt.
Zwei Gläser Wasser und zwei Stapel Papier sind am jeweiligen Tischende drapiert.

Zeitangabe: eine Stunde.
„Aufgabe 1: Erläutern und erörtern Sie folgendes Zitat (Ordnungskategorien, Operatoren, Klausuren, mein Abi rattern in Sekundenschnelle durch meinen Kopf):
„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“ Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches.“

Punkt.
„Menschlich“ scheint mir in diesem Kontext gar nichts zu sein, aber ich versuche mich zu konzentrieren und zu schreiben, was allerdings immer wieder durch hektisches Durchstreichen meines Kumpanen unterbrochen wird. Wir wurden alleine gelassen – mit diesem Zitat, diesem Raum und uns selbst.

„Aufgabe 2: Verfassen Sie ein kurzes Motivationsschreiben, in dem Sie beschreiben, warum Sie das Fach Politikwissenschaft studieren wollen.“

Wenn ich nicht gewusst hätte, dass diese Frage kommen würde, wäre sie wohl die am weitesten von meinem aktuellen Leben entrückteste Frage gewesen, die man mir hätte stellen können.
Nach einer Stunde und weiteren Kopien unserer Dokumente werden wir freundlich, aber bestimmt gen Ausgang eskortiert.

Durchatmen. Buenos Aires. Nicht Deutschland, auch wenn es sich für einen kurzen Moment so angefühlt hat. Meine lieben Mitpraktikantinnen, die mit nach Buenos Aires gekommen sind, warten, mit den deutschen Pässen in der Hand vor der Botschaft schon auf mich. Sie wurden nicht eingelassen, weil sie nicht auf der Gästeliste standen und harrten währenddessen in der Kälte aus, natürlich im Sichtfeld der Sicherheitskräfte in ihrem getönten Glashäuschen. Deutsches Staatsgebiet darf eben doch nicht jedermann oder -frau betreten. Das kommt einem erschreckend bekannt vor…
Nach diesem Erlebnis musste erstmal ein Mate her, den wir ganz gemütlich und genüsslich im Sichtfeld der Glashäusermenschen auf der Mauer der deutschen Botschaft tranken.

Cellotraum

Tja ihr Lieben, was soll ich sagen…Er war einmal wieder – bereits zum dritten Mal- da: José Araujo, der Solo – Cellist des argentinischen Nationalorchesters und hat uns mehr als beglückt! (Fast) jeden Monat nimmt er die 10-stündige Reise auf sich und kommt für einen ganzen Tag nach Mar del Plata. Er leitet die Stimmproben unseres Orchesters und gibt am Nachmittag Einzelunterricht. Durch kleines Verhandeln konnten natürlich auch wir Deutschen uns die ein oder andere Stunde ergattern.Ob Philosophieren über Cello-Konzerte, 2-stündige Masterklassen oder Ensemble-Proben, wir haben alles mitgemacht, was wir konnten! Das Niveau von dem wir hier sprechen erschließt sich, wenn man sich den Lebenslauf dieses Musikers anschaut: Im Pariser Konservatorium studiert, einige Stunden bei Jonas Starker in den USA absolviert (einer DER wichtigesten Cellisten unserer Zeit!) und danach in zahlreichen Orchestern als Solist hospitiert. Wer jetzt glaubt, dass es sich hier um einen arroganten, abgehobenen, selbstverliebten Musiker handelt, hat weit gefehlt!

Auf Musiker kann man sich irgendwie meistens musikalisch, aber fast immer menschlich verlassen.
Ruhe, Geduld, Faszination für die Musik, die Schüler, das Lernen an sich, natürlich die eigene Begabung, das intellektuelle Verständnis der Musik, was will man sich mehr wünschen von einem Lehrer? Wir selbst als noch immer angehende Lehrerinnen können uns da mehr als eine Scheibe abschneiden. Von morgens um 7 Uhr bis abends um 9 Uhr unterrichtet der Mann fast pausenlos und dabei ist er nicht der einzige! Jedes Instrument hat seinen persönlichen Schutzpatron, ob Flöte, Klarinette, Geige, Bratsche oder eben Cello. Beinahe jedes Wochenende reist meistens aus Buenos Aires ein Musikgenie an und tut sein/ihr Bestes. Unglaublich diese Möglichkeiten! Man bedenke nur, wie schwierig der Kontakt zu Musikern so hohen Ranges in Deutschland ist, von Unterrichtsstunden ganz zu schweigen. Das muss man den Kindern hier manchmal etwas deutlicher klarmachen, denn eine Selbstverständlichkeit ist das mit Sicherheit nicht. Und wo ein José Araujo bspw. ausschließlich gewohnt ist, Masterklassen für angehende Profis zu geben, schlägt er sich hier ebenso mit blutigen Anfängern herum.
Vor lauter Begeisterung haben wir leider weder Aufnahmen noch Fotos gemacht.
Gebannt warten wir also bis zum nächsten Mal, bis José Araujo oder egal welcher begabter Musiker auch immer, in die Armonía kommt und uns verzaubert!

Spontaner Kurztrip nach Uruguay – drei kontemplative Tage voller Mate, Entspannung und uruguayanischem Lebensgefühl

Ein klares Flüsschen vor mir zieht sich ganz gemächlich durch den Sand und mündet in den Río de la Plata, der sich hinter der Sandbank in ganz seichten Wellen am weißen Strand bricht. Karibisch und ein bisschen wie im Amazonas mutet der Strand mit seinen grünen Palmen und dem weichen Schilfgras an. Mit dem Mate in der Hand und der Sonne im Rücken sitze ich auf einem verwucherten Baumstamm am Strand und dachte ich mir, ich könnte einmal wieder einen Blogeintrag schreiben.

Drei Tage in der Weltkulturerbestadt Colonia und bisher saß ich hauptsächlich am Strand. Klar, die kolonialen Häuschen machen schon ihren Charme aus und gemeinsam mit dem Kopfsteinpflaster erinnert das kleine Städtchen eher an ein zeitloses südfranzösisches Dörfchen, aber nach dem „Buenos-Aires-Schock“, der dieses Mal gar nicht so schlimm ausgefallen ist, wie sonst immer, muss man erst einmal Ruhe tanken. Und wo könnte man das besser als in Uruguay ?! Die Menschen, die mir hier über den Weg laufen (sind nicht besonders viele) strahlen eine Ruhe und Gelassenheit aus, die so einnehmend und entspannt ist, dass man schon nach dem ersten Tag hier das Gefühl hat, nie wieder weg zu wollen. Nette, unverbindliche Gespräche, ohne dass man seine Lebensgeschichte erzählen muss, oder die des Gegenübers aufgezwängt bekommt, wie das beispielsweise der Busfahrer auf der Fahrt von Mar del Plata nach Buenos Aires ungefragt getan hat. Nein, die Menschen hier haben Zeit, sind entspannt und leben einfach den Tag vor sich hin ohne demonstrative Yoga-Vorführungen oder affektierten Gesundheitswahn, um ihre vermeintliche Ausgeglichenheit zu demonstrieren. Kleine, literarische, gemütliche Cafés sind an jeder Ecke zu finden.
Illusorische Utopien, wie ein Strandhaus an der uruguayanischen Atlantikküste, den ganzen Tag lesend in der Hängematte oder am Strand verbringend, befallen mich.
Eigentlich bin ich ja hier, um mein Visum zu erneuren, das nur drei Monate gültig ist. Mein letztes Mal ausreisen…
Aber der kleine Urlaub tut auch so ganz gut, um ein bisschen Abstand von Mar del Plata und der Armonía zu bekommen. Die Zeit dort ist unglaublich spannend, aber eben auch sehr intensiv und Raum, um das alles zu rekapitulieren (,besonders das letzte Wochendende, aber dazu mehr im nächsten Blogeintrag,) ist oft nicht vorhanden.
Deshalb drei kontemplative Tage mit dem Fahrrad (ihr glaubt gar nicht, wie sehr ich Fahrradfahren vermisst habe!) durch Colonia, das letzt vorhandene Geld aus dem Fenster werfen, bevor es dann in zwei Monaten auch schon wieder zurück nach Deutschland geht.
Aber bis dahin träum ich lieber noch ein bisschen von Strandhäusern am Meer…

Und weiter geht’s….

 

Schmuckhafte Trauerweiden säumen das weiße kleine Häuschen einer (ehemaligen) Cello – Schülerin. Als wir eintreten begrüßt uns das 16- Jährige Mädchen schüchtern mit ihrem 3 Monate alten Säugling auf dem Arm. Die einzige Sitzgelegenheit in dem schmucklosen, steril-weißen Raum mit von der Decke herabhängenden Kabeln, sind Holzstühle an einem kleinen Tisch. Wenn man nicht gewusst hätte, dass die kleine Familie bereits seit einem knappen halben Jahr hier lebt, hätte man meinen können, die drei wären erst gestern eingezogen. Er ist bei der Arbeit, Sie Zuhause. Die bunten Farben des Fernseher leuchten grell als wir eintreten. Nach längerem Schweigen fragen wir sie, wo denn ihr Cello sei. Als sie mit ihrem Instrument aus einem winzigen Nebenraum auftaucht meint sie nur, sie hätte eine große Auftrittsangst und lässt uns auf ihrem Cello spielen.
Wir verlassen das Haus mit einem mulmigen Gefühl. Unterrichtsstunden, die später niemals stattfinden sollten, waren ausgemacht. Die Hoffnung bestand, dass sie, eine der Stipendiatinnen des Projekts, am kommenden Wochenende bei dem Solo-Cellisten des argentinischen Nationalorchesters Unterricht nehmen würde, auch dazu kam es nicht.
Solche Geschichten sind hier leider nicht selten und nur in ganz wenige davon haben wir drei einen tieferen Einblick.
Auch die „Häuser“, in denen viele der Kinder leben sind Backsteinruinen, rauchige, dunkle Verschläge, mit wenigen Zimmern für viele Menschen.
Jedes dieser Kinder ist mit einem Trauma belastet. Häusliche Gewalt, Drogen, Alkoholismus, Mord, Armut sind hier ganz alltägliche Probleme. Darüber gesprochen wird nur selten und zum Psychologen gehen eben auch nur die, die sich das leisten können.

Nebenbei flammt die argentinische Wirtschaftskrise bedrohlich auf: Politisch ist das Land geteilt in die Peronisten und die Befürworter Macris. Der Graben zwischen den zwei Lagern ist groß, auch in unserem Umfeld ist das zu spüren. Die Servidoras eilen los, um Einkäufe zu tätigen, die Gatter, Türen und Tore werden besonders sorgfältig zugesperrt, Gebete werden ausgesendet. Auch wir drei fiebern mit, denn „Außenstehende“ sind wir längst nicht mehr. Die Stimmung ist bis zum Anschlag angespannt.

Zur Besänftigung allen Trubels haben wir den Servidoras und den Angestellten der Armonía aus unserer prächtigen Granatapfelernte Marmelade gekocht und auch sonst beglückt uns vor allem Dolores mit vegetarischen Gerichten aus dem hauseigenene Garten der Armonía.
Zudem begeben wir uns immer wieder auf Erkundungstour nach Mar del Plata und Umgebung, stürzen uns in die Wellen des Atlantiks, trotz anbrechendem argentinischen Winter und machen mit den chicos aus unserem Projekt ein Gaucho – Fest unsicher. Neuerdings spielen wir im Studentenorchester Mar del Platas mit und wenn wir Glück haben,
können wir sogar noch ein Konzert mitspielen, bevor wir zurückkehren. An Trios, Quartetten und aller Art Ensemble kann man unser derzeitiges Pensum fast nicht mehr übertreffen, aber es macht einfach so unglaublich viel Spaß, mit den Kindern und Jugendlichen sowieso!

Die Fassade bröckelt

… und so langsam werden die wunden Punkte dieses Projektes sichtbar, genauso wie die starren und festgefahrenen Strukturen, die hier herrschen. Wenn man daran rütteln will, wird es gefährlich.
Natürlich sind wir alle mit der illusorischen Vorstellung hierher gekommen, etwas Großartiges an diesem Projekt verändern zu können. Dass das in ca. 6 Monaten nicht möglich ist macht einem die Realität und der Alltag relativ schnell klar. Trotzdem ist es manchmal frustrierend auf hohe Mauern zu stoßen, die viele neue Wege versperren. Das hat einerseits etwas mit der argentinischen Mentalität zu tun, immer spontan zu sein, ergo kann man sich auf fast nichts verlassen und Organisation und Vorausplanung ist auch immer wie gesagt – spontan. Andererseits haben die „Servidoras“, ein streng katholischer, sehr reicher Schwesternorden, ein anderes Leben, das oftmals mit unserem und dem des Projekts kollidiert. Neue Vorschläge, Veränderungen, auch wenn es nur kleine sind wie bspw. das Essen (wir haben festgestellt, dass das Essen der Kinder sehr wenig Vitamine und sehr viel Zucker enthält) müssen erst einmal durch alle Institutionen und Hierarchien hinweg debattiert werden und werden dann oftmals abgelehnt.
Die drei Servidoras hier sind sehr einsichtig und nehmen sich uns an, dennoch sind unsere Weltbilder sehr unterschiedlich und gerade weil wir nun nur noch drei deutsche Mädchen hier sind, wird uns vieles verboten und schon ein Tagesausflug ins 20 km entfernte Mar del Plata wird als gefährliche Reise angesehen.
Veränderungen sind hier kaum oder nur mit einem großen Kraftakt zu meistern, auch wenn wir nicht die einzigen sind, die das versuchen oder versucht haben (auch einige Lehrer sind immer wieder verzweifelt am Tüfteln und Verbessern). Der Mangel an Veränderung ist aber leider deutlich spürbar, denn das Projekt, das eigentlich schon seit über 10 Jahren besteht, mogelt sich irgendwie über die Runden, von Koordination ist aber keine Rede.
Was dieses Projekt für die Kinder bedeutet, nämlich eine unglaublich wichtige Stütze, Vertrauenspersonen, die sie Zuhause nicht haben und die Welt der Musik, in die sie abtauchen können, ist unersetzlich, und vielleicht sind die Rückschläge für uns deshalb so depremierend, weil wir die Kinder und das Projekt schon längst ins Herz geschlossen haben. Die einzigen wirklichen Veränderungen, die wir bewirken können, sind unsere Schüler. Natürlich kann keine von uns aus einem Schüler in 6 Monaten einen Cellostar machen, aber alleine das gemeinsame Musizieren und Vertrauen zu schenken als Lehrer und als Freundin reicht aus.
Unser Aufgabenspektrum erweitert sich immer weiter und jetzt, da noch einmal 30 neue Kinder zu den ursprünglichen 40 dazu gekommen sind, biegen sich alle Balken, auf dem dieses Projekt steht.
Ein anderes Thema ist auch die finanzielle Situation, die wir drei immer wieder ganz unmittelbar zu spüren bekommen, wenn bspw. das Tankgeld abgespeckt wird oder das warme Wasser „rationiert“ wird. Auch der Geigenbauer, sei es aus mangelnder Organisation oder aus finanzieller Not, hätte einiges an Arbeit zu tun. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal zu zahlreichen Spenden aufrufen (auch sehr gerne Instrumente aller Art oder instrumentale Utensilien), die wie wir in den letzten Monaten erlebt haben, eindeutig fehlen.

Teil II: Buenos Aires – Wiedersehen und Abschied

Mit meinem großen Rucksack dränge ich mich in die vollgestopfte U-Bahn. Dreckige, heiße Luft weht mir aus dem U-Bahn-Schacht entgegen. Willkommen zurück. Um mich herum ein wildes Gewirr aus Armen, die drängen und nach Stangen greifen. Die ständige Angst beklaut zu werden.
Erleichtert und taub von all dem Lärm lasse ich mich auf das Bett des Hochhauses in Palermo fallen. Unter mir rauscht der Verkehr wie ein endloser Fluss vorbei.
Am nächsten Morgen geht’s zum Flughafen und nach Minuten der Aufregung, die sich wie Stunden dahingezogen haben, kam tatsächlich wie ein Wunder meine Mutter aus der Schiebetüre herausgetreten. Was für eine Freude!
Natürlich haben wir das ganze Touri – Programm durchgezogen und ich hoffe, ich habe eine gute Stadtführerin abgegeben. San Telmo, La Boca, Microcentro, der japanische Garten, das großartige Teatro Colón, Palermos Bars und natürlich das unumgängliche argentinische Steak mit der lieben Maren Zwicker, meiner ehemaligen Spanisch-Lehrerin, der wohl dieser ganze Südamerika – Wahn zu verdanken ist, standen auf dem straffen Programm.
Meine treuen porteños, Susana und Ramiro, haben uns ebenfalls zum Essen ausgeführt und generell haben wir es uns kulinarisch doch sehr gut gehen lassen. In unserem kleinen Apartment in Palermo haben wir uns sehr schnell wie Zuhause gefühlt, uns mit den Supermarktverkäufern von gegenüber angefreundet und waren sehr erleichtert eine kleine Ruhestätte in dem Großstadttrubel zu haben.
Anschließend stand noch das Konzert des Orquesta Avanzada (des fortgeschrittenen Orchesters) meines Projekts in Buenos Aires an. Aus Mar del Plata kamen die ca. 30 Jugendlichen mit den Bussen des Projekts und gaben gemeinsam mit Ulrike Flemming, der Mitgründerin und Koordinatorin aus Deutschland, ein sehr schönes Konzert in einer alten Bibliothek der medizinischen Fakultät.
Dieses große Zusammentreffen war mehr als emotional, vor allem weil an diesem Abend die deutschen Freiwilligen, die wir drei Mädchen inzwischen abgelöst haben, verabschiedet wurden und dieser Abend auch der letzte mit meiner Mutter in Buenos Aires war. In einem der zahlreichen „Häuser“ der Servidoras (dieses Wort ist eine reine Untertreibung, „Palast“ würde es eher treffen!) fand die abschließende Runde mit dem ganzen Orchester, meiner Mutter und allen anderen statt.
Den Abschied am Flughafen am nächsten Tag haben wir beide nicht tränenfrei überstanden und so langsam summieren sich die Abschiede und Wiedersehen für mich an diesem Flughafen !

Der Bus nach Mar del Plata schaukelt mich langsam aus dem grauen Hochhäuserwald zurück in die vertraute, sanfte Pampa, mein kleines argentinisches Zuhause.